50 Jahre Stiftung Gertrud Kurz

Zum 50-jährigen Jubiläum der Stiftung Gertrud Kurz wollten wir die Entwicklung und Rolle unserer Stiftung reflektieren sowie drängende Fragen für die Zukunft klären. Dazu haben wir Pascal Goeke (PG), Evelyn Moser (EM) und Marc Mölders (MM) interviewt, die intensiv zu Stiftungen forschen. Aus diesen Gesprächen ist ein Interview entstanden, das Aufschluss darüber gibt, ob unsere Stiftung auch in 50 Jahren noch bestehen wird und wie wir trotz begrenzter Mittel nachhaltig wirken können.

 

Stiftungsrätinnen: Seit 50 Jahren setzt sich unsere Stiftung für ein solidarisches Zusammenleben und insbesondere für die Teilhabe und Anerkennung von Geflüchteten ein. Werden Stiftungen wie unsere auch in 50 Jahren noch relevant sein, oder sind wir ein Auslaufmodell?

 

MM: Wir sprechen in unserem Buch von den ersten 5.000 Jahren Stiftungsgeschichte, da wirken weitere 50 Jahre wie ein Wimpernschlag. Dass wir so lange auf Stiftungen zurückblicken können, zeigt, dass sich Stiftungen immer wieder an gesellschaftliche Veränderungen anpassen können. Davon gibt es einerseits gerade eine ganze Menge, allein durch die Digitalisierung, andererseits hat es in der jüngeren Vergangenheit wohl kaum eine Zeit gegeben, die sich nicht für veränderungsreich gehalten hat.

 

PG: Zustimmung! Und solange es die Möglichkeit zur privaten Akkumulation von Vermögen gibt, wird es auch Menschen geben, die ihr Vermögen nicht vererben, sondern stiften. Dass sich etwas an dieser Grundvoraussetzung des Stiftens ändern sollte, kann ich nicht erkennen.

 

EM: Auch wenn Stiftungen mit Blick auf ihr formales Bestehen vorläufig sicher nicht gefährdet sind, finde ich die Frage nach dem »Auslaufmodell« wichtig. Die gesellschaftliche Relevanz von Stiftungen ist schließlich kein Automatismus, der zwingend aus ihrem Vermögen folgt. Sie hängt vielmehr ganz wesentlich mit der Fähigkeit von Stiftungen zusammen, aufmerksam und sensibel in ihre Umwelten hineinzuhorchen – nur dann ist Anpassung möglich. Sich unter diesem Aspekt als Organisation immer wieder selbst zu reflektieren, halte ich für sehr wichtig.

 

Stiftungsrätinnen: Apropos Anpassungen: Wir haben begonnen unsere Sitzungen online abzuhalten oder diese während des Verpackens unserer Kurznachrichten durchzuführen. So können alle Stiftungsrätinnen trotz familiärer und anderer Verpflichtungen mitmachen. Doch gefährdet diese neue Sitzungskultur die Institution Stiftung?

 

MM: Die Frage, ob man sich in Präsenz oder digital trifft, stellt sich für sehr viele Organisationen. Auf dem Arbeitsmarkt sehen wir gerade beide Entwicklungen: Die Institutionalisierung von Homeoffice und die Rückkehr zur Präsenzkultur. Soziologisch ist häufig diskutiert worden, ob Interaktionen in Anwesenheit Effekte zuzutrauen sind, die ansonsten nicht zu haben wären: Vertrauensaufbau, den anderen «lesen», weil man ihn oder sie eben auch erlebt. Es scheint leichter zu sein, Leute unter Anwesenheitsbedingung für sich oder die eigene Sache zu gewinnen. Auf digitale Sitzungen freut sich vermutlich niemand, sie können aber den Vorteil haben, dass sich alle dann eher aufs Wesentliche konzentrieren, um die Situation abzukürzen. Das kann sicherlich auf Kosten einer Sitzungskultur gehen, in der man nebenbei auch mal informell sprechen kann.

 

PG: Die interne Arbeitsstruktur ist die eine Sache. Eine andere Sache betrifft das Außenverhältnis und hier zeichnen sich ähnliche Veränderungen ab, wie bei Organisationen allgemein. Stiftungen versuchen sich zu öffnen, um Veränderungen, Bedarfe und auch Möglichkeiten in ihren Umwelten besser zu begreifen. Aber diese Offenheit, die auch mit Informalität einhergeht, darf nicht täuschen. Stiftungen haben noch immer eine administrative Struktur und klare formale Regeln. Wenn sie aber nach außen wirken und ihre Wirkungen steigern wollen, sind sie gut beraten, sich zu öffnen und sich auch einmal von außen etwas sagen zu lassen.

 

Stiftungsrätinnen: Als komplett ehrenamtlicher Stiftungsrat stossen wir teilweise an unsere Grenzen, wenn wir beispielsweise der eidgenössischen Stiftungsaufsicht Rechenschaft über all unsere Aktivitäten ablegen müssen. Dies erfordert sowohl menschliche als auch finanzielle Ressourcen, die wir lieber für unsere Projekte einsetzen würden. Warum ist das alles notwendig?

 

MM: Wie alle formalen Regeln sollen diese erst mal allgemein und damit unabhängig vom speziellen Typ gelten, in diesem Fall also für sehr große Stiftungen genauso wie für kleine Förderinitiativen, zumindest wenn sie formal der Stiftungsform entsprechen. In Deutschland gibt es inzwischen die gGmbH (gemeinnützige GmbH), die einen gemeinnützigen Zweck verfolgt, durchaus aber Gewinne machen darf, wenn diese wieder dem Stiftungszweck zugutekommen. Mit unterschiedlichen Organisationsformen gehen eben unterschiedliche Rechte und Pflichten einher. Interessant ist an der ESA zunächst, dass die Aufsicht sich am jeweiligen Zweck orientiert, also gewissermaßen von außen eine Binnenperspektive einnimmt. Sie wollen, dass Ihr in Eurem Sinne handelt, trauen es Euch aber offenbar nicht zu, das selbst zu beaufsichtigen.

 

EM: Über die Sinnhaftigkeit einzelner Regeln lässt sich sicher streiten, aber grundsätzlich hat eine staatliche Stiftungsaufsicht auch damit zu tun, dass Stiftungen unter Demokratiegesichtspunkten immer ein bisschen heikel sind. Das gilt für die Großen sicher mehr als für die Kleinen, aber letztlich trifft auf alle Stiftungen zu, dass sie wirtschaftliche Zahlungsfähigkeit in öffentliche Gestaltungsmacht transformieren, hinter der letztlich eine Einzelperson oder eine kleine Gruppe steht. Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen, aber durch Kontrolle zumindest einhegen und für Demokratien handhabbar machen. Wenn der bürokratische Aufwand dabei allerdings so groß ist, dass er kleine Stiftungen in ihrer Handlungsfähigkeit einschränkt, geht das zweifellos über das Ziel hinaus.

 

Stiftungsrätinnen: Bleiben wir beim Geld. Wir sind eine kleine Stiftung mit sehr geringen finanziellen Ressourcen. Was können wir tun, um zu überleben?

 

MM: Wenn Ihr auf die letzten 50 Jahre zurückblickt, seht Ihr sicher viele größere und kleinere Erfolge, die Ihr mit den Euch zur Verfügung stehenden Mitteln erreicht habt. Die künftigen Bedingungen werden nicht unbedingt schlechter: Vermögen schrumpfen – im deutschsprachigen Raum – eher nicht. Potenziell Gebende müssen Euch kennen, auch dafür sind u.a. durch Social Media die Umstände eher günstig. Es haben sich sogar Intermediäre in diesem Bereich gebildet, also Organisationen, deren Hauptzweck es ist, Gebende zu beraten, wohin sie ihr Geld senden sollen. Ob man versucht, in deren Katalogen aufzutauchen, die Social Media-Karte zu spielen oder auch überhaupt wachsen zu wollen – all dies sind Fragen, über die Stiftungen selbst entscheiden können. Man kann Entwicklungen beobachten und sich getrieben fühlen, aber es kann sich die Fragen lohnen, ob diese oder jene Entwicklung jetzt angestrebt werden soll oder man nur auf die Idee kam, weil so viele andere es auch machen.

 

PG: Wenn Stiftungen einen Vorteil haben, dann ist das ihre Autonomie und Unabhängigkeit. Innerhalb eines Rechtsrahmens genießen sie Freiheiten und das Stiftungsvermögen sorgt für ein Minimum an Unabhängigkeit. Diese relative Ressourcenunabhängigkeit unterscheidet sie von allen anderen Organisationen, die immer wieder auf konkreten Zuspruch angewiesen sind: Unternehmen auf Kunden, Universitäten auf Studierende, Verwaltungen auf Mittelzuweisungen etc. Gewiss kann man sich dann noch immer über mehr Mittel freuen oder, auch das ist sinnvoll, sich um Legate bemühen. Aber im Zentrum sollte die Frage nach dem Sinn der Stiftung stehen und wenn man von diesem überzeugt ist und den Stiftungszweck gut erfüllt, lassen sich neue Optionen eröffnen und erschließen.

 

Stiftungsrätinnen: Angesichts unserer begrenzten Mittel unterstützen wir kleine, lokale Projekte unbürokratisch. Obwohl wir glauben, damit Wirkung zu erzielen, können wir dies nicht messen oder beweisen. Ist das noch zeitgemäss?

 

MM: Das ist schon lange ein großes Thema für Stiftungen, Aus der großen Zeit von Carnegie, Rockefeller oder Ford stammt der Satz: «Find good minds and give them the freedom to work without interference». Lange Zeit galt es, vertrauenswürdige Nehmer zu finden, Zwecke zu identifizieren, die die Geber als fraglos förderungswürdig erachteten, dann aber die Kontrolle abzugeben. Jünger ist die Entwicklung namens «Donor Control». Hier wird das Geben konditioniert: Wenn ihr – Nehmer – glaubhaft machen könnt, dass dieser oder jener «Impact» zu beobachten sein wird, dann gibt es Unterstützung. Das bedeutet dann auch, dass man sich überlegen muss, woran ich einen erwünschten Wandel überhaupt erkennen, wie ich ihn messen kann. Und das wiederum führt dazu, nur noch Zwecke oder Projekte zu fördern, in denen man glaubt, so etwas auch messen zu können. Interessanterweise kam dies vor allem mit der Mega-Philanthropie der Superreichen auf, also mit Leuten, die auf die einzelne Million nicht so sehr schauen müssen. Hier hat sich eine weitere Entwicklung angeschlossen, nämlich Organisationen, deren Zweck es ist, möglich effektive Spendenziele zu errechnen: Wo ist der einzelne gespendete Dollar oder Franken am besten eingesetzt. Entwurmung («Deworm the World») ist ein geradezu klassisches Beispiel: Die Maßnahme kostet wenig, hat aber einen messbar positiven Einfluss auf viele Menschenleben. Wir sehen aber gerade auch, dass sich dieser Trend womöglich wieder dreht. Ausgelöst wird diese Umkehr ausgerechnet von den Frauen derjenigen Philanthropen, die zunächst für das Gegenteil standen, nämlich MacKenzie Scott (zuvor Bezos) und Melinda French Gates.

 

PG: Ich weiß nicht, ob der Blick auf das «Zeitgemäße» allein hilft. Stiftungen haben eine eigene Geschichte. Die ist nicht unveränderlich, aber man sollte sich schon fragen, ob ich jede Managementidee mitgehen soll. Gerade das Beispiel des effektiven Altruismus hat gezeigt, dass auf den ersten Blick vielleicht verlockende Ideen am Ende eher unpraktisch sind, das eigene Handeln eher hemmen und sich nicht mit der eigenen Prägung vertragen. Die Idee des effektiven Spendens ist eine utilitaristische Idee und kann daher in der angelsächsischen Welt besser gelebt werden. In Deutschland mit einer eher kantischen Tradition und kategorialem Denken ist sie immer auch fremd. Die Schweiz mag mit ihren calvinistischen Elementen dazwischen stehen, aber letztlich kommt es auf die einzelne Stiftung an. Insofern wäre mein Rat: Neue Ideen sind zu prüfen und dann adaptiv anzuwenden. So kann man viel lernen, aber von einem einfachen Import rate ich ab.

 

Stiftungsrätinnen: Genau, mit unseren wenigen Mitteln fördern wir bestmöglich ein solidarisches Zusammenleben. Dazu brauchen wir aber die Unterstützung von unseren Spender:innen. Wird auch zukünftig für die Anerkennung und Teilhabe von Geflüchteten gespendet?

 

PG: Da bin ich mir sicher. Der Wind in diesem Feld mag gegenwärtig sehr rau sein, aber so sehr sich die EU und die Schweiz auch abschotten möchten, Flucht und Migration gehören, so hat es der Historiker Klaus Bade klar formuliert, zur Conditio humana wie Geburt, Vermehrung, Krankheit und Tod. Und weil das der Fall ist, wird es Menschen geben, die sich auch zukünftig daran erinnern, welche Mühen damit einhergehen und sich entsprechend engagieren.

 

EM: Hier würde ich auch Stiftungen selbst in der Pflicht sehen – durch ihr Handeln die Aufmerksamkeit immer wieder auf solche Themen zu lenken und hoch zu halten. Das geht auch in kleinem Rahmen: Was für große Stiftungen zum Beispiel Medienpartnerschaften mit überregionalen Zeitungen sind, über die sie Themen setzen, kann für kleine Stiftungen die lokale Präsenz sein, das niederschwellige Ins-Gespräch-Kommen mit den Menschen in der Fußgängerzone oder auf dem Marktplatz und ähnliches. Und genau dies kann auch ein Weg sein, um nicht nur für eigene Ideen zu werben, sondern »liegengebliebene« Themen aufzuspüren – hier sind wir dann wieder bei der Frage der Anpassungsfähigkeit.

 

MM: Stiftungen bearbeiten häufig Themen, die andere – etwa der Staat – liegengelassen haben. Das kann dann auch gut für die Akquise eingesetzt werden – seht her: Wir machen das, wir kümmern uns darum. Das Thema Flucht hat nun schon seit einigen Jahren eine hohe Aktualität und ist erkennbar auch Gegenstand von Staatshaushalten. Bei in diesem Sinne gut etablierten Themen wäre dann die Frage, welchen Aspekt man vertritt, der ansonsten zu kurz käme. Vielleicht ist an dieser Stelle die Gegenfrage erlaubt: was wäre denn das Aspekt im Fall der Stiftung Gertrud Kurz, der sonst niemand macht, der liegengeblieben ist?

 

Stiftungsrätinnen: Inspiriert durch das Wirken von Gertrud Kurz unterstützen wir kleine Projekte, vorzugsweise Selbsthilfeprojekte, die lokal wirken und sonst kaum Unterstützung erhalten, weil sie den gängigen formalen Erwartungen nicht entsprechen. Die Initiativen sind vielfältig und umfassen beispielsweise die Organisation von Cafés und anderen Treffpunkten, Radiosendungen, Ferienlagern, Ausstellungen oder Sprachkursen, die allesamt Formate bieten, um Teilhabe und Anerkennung zu fördern.

 

 

Pascal Goeke ist Professor für Geographie und Wirtschaft an der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz und assoziiertes Mitglied am Forum Internationale Wissenschaft der Universität Bonn. Bei gemeinnützigen Stiftungen interessiert ihn vor allem, wie sie ihre großen Ziele organisational zu verwirklichen versuchen, schließlich müssen sie allein mit den Mitteln der Gabe andere dazu bewegen, in die von der Stiftung bevorzugte Richtung zu gehen.

 

Evelyn Moser ist Soziologin und Akademische Rätin am Forum Internationale Wissenschaft der Universität Bonn. Auf Stiftungen blickt sie vor allem aus gesellschafts- und demokratietheoretischer Perspektive. Sie interessiert sich für die Frage, welche Möglichkeiten Stiftungen durch oder trotz ihrer konstitutiven Merkmale als Organisationen haben, um sich in demokratische Gesellschaften einzufügen.

 

Marc Mölders hat Soziologie in Bonn, Bielefeld und Edinburgh (Science & Technology Studies) studiert. Nach seiner Promotion zu einer soziologischen Lerntheorie hat er zunächst in der Dortmunder Techniksoziologie als wissenschaftlicher Mitarbeiter und anschließend als Akademischer (Ober-)Rat im Arbeitsbereich Recht und Gesellschaft der Bielefelder Fakultät für Soziologie gearbeitet. Dort hat er sich 2019 mit dem Thema «Korrektur der Gesellschaft. Irritationsgestaltung am Beispiel des Investigativ-Journalismus» habilitiert. Seit Mitte 2023 ist er Postdoc im Arbeitsbereich Mediensoziologie und Gesellschaftstheorie am Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er forscht u.a. zu der Frage, wie (z.B. philanthropische) Organisationen an der Lösung großer Probleme einer differenzierten Gesellschaft arbeiten. Zu seinen Lehr- und Forschungsschwerpunkten zählen zudem die soziologische Theorie, die Organisations- und Rechtssoziologie. Außerdem ist er Fellow des Stein-Hardenberg Instituts in Berlin.

 

Publikation

Goeke, Pascal, Moser, Evelyn, Bahrami, Ramin, Burgold, Julia, Mölders, Marc, & Selivanova, Galina. (2024). Stiftungen der Gesellschaft. Zur organisierten Philanthropie der Gegenwart. Bielefeld: Transcript. https://www.transcript-open.de/isbn/6911